„An ihrer Stelle“ – ein emanzipatorischer Film

Shira aus Tel Aviv ist achtzehn Jahre alt und wie bei vielen Jugendlichen sind die Themen „Partnerschaft“ und „Ehe“ für sie gerade von großer Bedeutung. Soweit ist der Filmplot von An ihrer Stelle – seit dem 14. Februar auf DVD erhältlich – nicht ungewöhnlich.

Doch die junge Israelin ist orthodoxe, chassidische Jüdin. Den jungen Mann, der ihre Gedanken beschäftigt, ihren potentiellen Ehemann, haben ihre Eltern ihr vorgeschlagen. Als ihre ältere Schwester bei der Geburt ihres ersten Kindes plötzlich verstirbt, übernimmt Shira die Pflege des Säuglings und wird wenig später mit dem Vorschlag konfrontiert, ihren verwitweten Schwager Yochai zu heiraten. Die Familie des für sie vorgesehenen Kandidaten hat ihr Interesse an einer Heirat unterdessen zurückgenommen und inmitten der Trauer muss Shira sich entscheiden: Will sie den Platz ihrer Schwester als Ehefrau Yochais und Mutter seines Sohnes einnehmen? Oder ihre Familie einen neuen Kandidaten für sich finden lassen?

Hier der Trailer zum Film:

Eine solche Entscheidung treffen zu müssen ist wiederum fremd und ungewöhlich auf der Kinoleinwand und in unserem Alltag. Bei den Kritikern fällt das Urteil entsprechend unterschiedlich aus: Von Filmpreisen bis zu harscher Kritik reichen die internationalen Reaktionen.

An ihrer Stelle ist der erste Spielfilm von Rama Burshtein, Jahrgang 1967, den sie nicht speziell für chassidische Frauen gedreht hat. Sie selbst ist in New York säkular-jüdisch aufgewachsen und hat sich mit 26 Jahren, nach dem Abschluss an der Sam Spiegel Hochschule für Film und Fernsehen in Jerusalem, für den orthodox-jüdischen Lebensstil entschieden.

Der Film An ihrer Stelle war Burshtein ein Herzensanliegen. In mehreren Interviews, unter anderem mit Nirit Anderman von der israelischen Tageszeitung Haaretz, gab sie an, dass die negative und stereotype Sicht säkularer Filme auf orthodoxe Juden sie zu diesem Filmprojekt veranlasst habe. Sie wollte chassidisches Leben aus der Perspektive chassidischer Juden auf die Leinwand bringen, um ihren Mitbürgern einen authentischen Einblick in die ihnen fremde Welt zu ermöglichen. Die Vielfalt jüdischen Lebens und des Chassidismus mit seinen unterschiedlichen Gruppen ist Burshtein dabei bewusst. Vielleicht bettete sie die Handlung deshalb in ihre eigene kleine Gemeinschaft im säkularen Tel Aviv ein?

Viele Israelis nahmen diese Gelegenheit wahr, eine Innenansicht auf die auch für sie oft wenig verständliche Lebensweise zu erhaschen. Im eigenen Land spielte der Film knapp 1,5 Millionen $ ein und erhielt sieben Ophirs, israelische Oscars. Auch international erlangte An ihrer Stelle große Aufmerksamkeit. Neben der Auszeichnung für Hadas Yaron (Shira) als beste Schauspielerin bei den Film-Festspielen 2012 in Venedig gehörten viele positive Kritiken in namhaften US-amerikanischen Zeitungen dazu.

In Deutschland fielen die Reaktionen verhalten bis kritisch aus. Besonders die Rolle der Frauen wurde als reaktionär bemängelt. Der Film zeigt die chassidische Lebensform, in der die Handlungsfelder der beiden Geschlechter weitgehend getrennt sind. Männer widmen sich vorrangig dem Studium der Thora, Frauen hingegen der Versorgung von Kindern und Haushalt.

Katja Nicodemus vom NDR bezeichnet diese als „nicht zu hinterfragende Traditionen“ und „archaische Strukturen“. Dass jemand, wie es Rama Burshtein tat, diese Lebensform völlig selbstbestimmt wählen könnte, findet in ihrer Weltsicht schlichtweg keinen Raum. Auch die ihr fremde Wahl der Stilmittel, die in Burshteins zwanzigjähriger Produktionsarbeit für orthodox-jüdische Frauen begründet liegen könnte und der Erzählung durchaus angemessen ist, erregt ihren Anstoß. So schaut Frau Nicodemus dem Leben der orthodoxen Juden auf der Leinwand zwar von außen zu, doch erhält ihren eigenen Worten nach „keine Einblicke in die jüdisch-orthodoxe Welt“.

Mangelnde Tiefe der Figuren oder das Bedienen von Klischees kann man der Drehbuchautorin und Regiesseurin Rama Burshtein aber gerade nicht vorwerfen. Der Hauptcharakter Shira wächst zu einer starken Persönlichkeit heran, die sich ihre eigene Meinung bildet und diese auch zu vertreten weiß. Auch sind es eben nicht die männlichen Charaktere, die bewusst Einfluss auf ihre Entscheidung nehmen, sondern Shiras Mutter. Das zumindest ist kein spezifisch jüdisch-orthodoxes Phänomen. Trotz der Wünsche ihrer Mutter bleibt Shira Raum für ihre Entscheidung, die sie nicht nur nach Kriterien ihrer Religion und Familienansprüchen trifft, sondern bei der sie sich auch von ihren Gefühlen leiten lässt.

Ein auffallend abschätziges Urteil fällte Kirsten Rießelmann bei Spiegel Online über den Film. Ihr Blick galt ausschließlich dem Rollenverhalten und der sexuellen Befriedigung der weiblichen Hauptdarstellerin. „Hinter keusch-kitschige[r] Weichzeichner-Erotik“ verbergen sich ihrer Ansicht nach „zweifelhafte Botschaften“, wie etwa, „dass es – angedeutet auch sexuell – befriedigend ist, soziale Normen zu erfüllen“. Damit bleibt sie nicht nur völlig in ihrem Weltbild verhaftet und verpasst die Chance, chassidisches Leben auch nur ein wenig kennen zu lernen, sondern bestätigt auch das erschütternde Zitat Bursteins, das Peter Münch für die Süddeutsche Zeitung abdruckte: „Ich weiß, dass die anderen auf uns schauen, als wären wir keine richtigen Menschen. Von außen sieht es ja so aus, als gäbe es keine Gefühle.“

Insbesondere den Missverständnissen über Geschlechterrollen wollte Burshtein mit ihrem nuancenreichen Film begegnen. Sie glaubt, dass gegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern existieren und zielt deshalb nicht auf Gleichheit mit ihrem Mann, sondern das Besondere der Weiblichkeit. Dass dabei auch Heirat und ein eigener Hausstand eine Rolle spielen, mag aus feministischer Sicht zunächst wie eine Ausflucht klingen. Hunderte von Hollywood-Filmen und Pop-Songs sprechen jedoch für Bursteins Position.

Dabei ist die chassidische Filmemacherin keineswegs naiv und weiß: „Jeder sieht den Film anders“. So bestätigt sich in den Rezensionen von An ihrere Stelle, dass wir auch die chassidische Welt nicht so sehen wie sie ist, sondern wie wir sind. Für Rama Burshtein handelt es sich bei ihrem Film um eine Liebesgeschichte.

 „Mit all den ultra-orthodoxen Trachten und Traditionen ist dies ein Historienfilm aus dem Hier und Jetzt, ein Guckloch in ein Paralleluniversum“, urteilt Peter Münch von der Süddeutschen Zeitung und lässt dabei jede Achtung vor einer anderen Lebensweise vermissen. Hätte er sich so über einen afrikanisch oder asiatischen Film geäußert, wäre ihm wohl Kulturimperialismus vorgeworfen worden.

Anke Westphal von der Frankfurter Rundschau hat einen Blick für das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der deutschen Kultur empfindet sie die Betonung der Gemeinschaft als „hart“. Aber könnte man unsere Kultur aus einer stärker kollektivistisch geprägten Perspektive nicht auch als ultra-individualistisch bezeichnen? Hier werden Familien aus beruflichen Interessen heraus kontinenteweit auseinander gerissen und unzählige Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf. Ist das nicht auch „hart“? Oder ist die „persönliche Freiheit“, von der Peter Münch schreibt, wirklich so viel mehr wert als das Wohl aller Beteiligten?

Zudem wirft Westphal Rama Burshtein fehlende politische Stellungnahme vor, weil in ihrem Film keine „Siedler, Eiferer [oder der] Palästinenserkonflikt“ vorkommen. Burshtein antwortet geduldig, dass es ein persönlicher Film sei. Es ist schwer nachvollziehbar, warum Israelis nicht auch Filme produzieren sollten, in denen es um andere Konflikte als um die mit ihren Nachbarn geht. Zumal es das erklärte Ziel von Burshteins Film ist, chassidisches Leben zugänglich zu machen. „Wer, bitteschön, versteht schon wirklich den Palästinenserkonflikt?!“, führt Burshtein auf Nachfrage der FR-Autorin weiter aus. „Warum soll ich etwas sagen oder meinen, wenn ich doch den wahren Kern einer Sache wie etwa dieser nicht ergründen kann!“ Doch auch diese Haltung scheint hierzulande fremd zu sein.

Für diesen Film hat Rama Burshtein einiges auf sich genommen. Schon beim Dreh mit größtenteils säkularen Schauspielern und auch später bei ihren Auftritten und Interviews gab es Situationen, denen sie in ihrer Gemeinschaft nie ausgesetzt wäre. Trotz Händeschütteln und anderen Berührungen durch männliche Gesprächspartner und langer Abwesenheit von ihrer Familie verfolgte die Regisseurin ihr dezidiert emanzipatorisches Ziel: Chassidischer Lebensweise eine Stimme in der Filmkultur zu verschaffen, die nicht durch eine säkulare Perspektive fremdbestimmt ist. Doch weil der dominanten westlichen Kultur nicht bewusst ist, dass sie trotz oder gerade mit ihrem lauten Einfordern von Toleranz andere Sicht- und Lebensweisen verdammt, bleibt diese Emanzipation weitgehend unkommentiert.

(wr)

 
Quellen:
 
http://www.spiegel.de/kultur/kino/gefeiertes-kinodrama-an-ihrer-stelle-ueber-orthodoxe-juden-a-910585.html
http://www.fr-online.de/film/interview-rama-burshtein–an-ihrer-stelle-,1473350,23656740.html
http://www.sueddeutsche.de/kultur/an-ihrer-stelle-im-kino-guckloch-in-ein-paralleluniversum-1.1715336
https://www.ndr.de/kultur/kino_und_film/anihrerstelle117.html
http://www.youtube.com/watch?v=Re5nNg3euUM
 

 

 
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