Frankreich: Neue antisemitische Geste auf dem Vormarsch?

Das französische Wort „Quenelle“ heißt eigentlich „Knödel“ oder „Nockerl“ und steht für ein aus einem zu länglichen Klößen geformten Teig, dessen Zutaten je nach Region und Rezept variieren. Seit einiger Zeit jedoch wird damit eine Geste bezeichnet, dessen Bedeutung und damit mögliche Sprengkraft bei unseren westlichen Nachbarn in den letzten Wochen heiß diskutiert wird.

Bei dieser Geste wird ein Arm gerade nach unten gestreckt, während man die andere Hand an die Schulter des ausgestreckten Armes führt. Für die einen ein Zeichen des Widerstands gegen das System, für andere ein umgekehrter Hitlergruß und damit Ausdruck antisemitischer Überzeugungen. Je höher die Hand, desto größer ist dabei der Protest.

Seinen Ursprung hat die Quenelle wohl 2005 in einer Show des bretonisch-kamerunischen Komikers und Schauspielers Dieudonné M‘bala M‘bala. Der bekannte Humorist machte zu Beginn seines öffentlichen Auftretens noch mit linken und antirassistischen Positionen auf sich aufmerksam, wandte sich dann aber zunehmend dem rechten Lager zu. Seitdem wurde er mehrfach für judenfeindliche Aussagen verurteilt und gilt international als nationalistischer Extremist. Immer wieder kommt es zu medienwirksamen Auftritten und Skandalen des politischen Aktivisten: 2003 trat Dieudonné in einer Fernsehsendung als orthodoxer Jude auf, der den Hitlergruß macht und „Isra-Heil“ ruft. 2005 bezeichnete er das Gedenken an den Holocaust als „Gedächtnispornographie“ und 2008 verlieh er dem Holocaustleugner Robert Faurisson einen Preis für „Unangepasstheit und Impertinenz“, den er von einem in KZ-Unform gekleideten Mitarbeiter überbringen ließ.

Im Rahmen der Europawahl von 2009, für die er mit seiner „antikommunitaristischen und antizionischen Partei“ (PAS) antratt, setzte er die Quenelle-Geste erstmals bewusst politisch ein – auf einem Wahlplakt der Liste Antisioniste, auf dem er mit dem ultraorthodoxen Rabbi Mordkhe Borreman, der zu den Juden gehört, die den Zionismus als unvereinbar mit dem wahren Judentum betrachten, mit Yahia Gouasmi, dem Präsidenten des französischen Schiitenverbandes, sowie mit Alain Soral, bis dato Mitglied der rechtsextremen Front National, abgebildet war.

Nun ist daraus ein Phänomen entstanden: Im World Wide Web finden sich zahllose Fotos von Franzosen, die sich in einer Art Volkssport mit Quenelle-Geste vor den unterschiedlichsten Hintergründen ablichten lassen: Die Quenelle vor der Klagemauer, am Berliner Holocaust-Mahnmal, neben bekannten Persönlichkeiten oder orthodoxen Juden – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Das Spektrum reicht dabei von mit dem Judentum oder der Shoah verbundenen Hintergrundbildern wie den Bahngleisen in Ausschwitz bis zu Bildern, die eher den regimekritischen Gedanken zum Ausdruck zu bringen: Das Foto des nichtsahnenden Innenministers Manuel Valls inmitten von Jugendlichen, die die Quenelle machen, hat es in dieser Katgeorie zu besonderer Berühmtheit geschafft. Wieder andere machen sich einen Spaß daraus, die Geste ins Fernsehen zu bringen, so Zuschauer in Fernsehshows, die zufällig im Bild sind, aber auch bekannte Fußballspieler beim Torjubel. Im September wurden zwei Soldaten für ein Foto mit Quenelle-Geste vor einer Pariser Synagoge sanktioniert.

Obwohl Dieudonné M‘bala M‘bala dieses Phänomen höchstpersönlich durch ausgerufene Wettkämpfe sowie kommerzielle Produkte mit der Quenelle oder entsprechenden Sprüchen anregt, banalisiert er die Geste. Es handele sich um eine subversive Handlung, die nicht mehr ihm, sondern der Revolution gehöre, so seine schwammig bleibende Aussage. Der Humorist macht sich sogar in eigenen Videos über den Antisemitismus-Vorwurf lustig, indem er banale Bilder von Schulkindern, die sich im Unterricht melden oder Tänzern, die einen Arm hochheben, ironisch als gefährliche Nazi-Symbole deutet. Trotz aller Beschwichtigungen ziehen aber Dieudonnés Anwälte in jüngster Zeit vermehrt in den Kampf gegen solche, die ihn und die Geste als antisemitisch einstufen, darunter zahlreiche Politiker und Journalisten.

Der bekannte Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan ließ hingegen am 19. Dezember auf seiner Facebookseite verlauten, die antisemitische Deutung der Geste sei seiner Meinung nach nur Propaganda. Vielmehr werde dadurch zum Ausdruck gebracht: „Hört auf, uns für dumm zu verkaufen, wir lassen uns nicht manipulieren und lassen uns nichts gefallen.“ Aufgefordert, die Geste selbst zu machen, lehnte der – oft gelobte, aber auch kritisierte – Reformsalafist ab und erklärte in einem knapp 23-minütigen Video, dass er die Instrumentalisierung der Quenelle für rassistische Zwecke nicht akzeptiere.

Sicherlich müssen mäßigende Stimmen wie diese gehört werden – gerade angesichts des entstandenen Volkssports, bei dem der Einzelne nicht unbedingt über Ursprung und die enthaltenden Anspielungen der Geste im Bilde ist – und der womöglich sogar amüsant wäre, wenn es sich um eine harmlose Geste handeln würde. Doch es scheint, als habe Dieudonné – sei es auf der Suche nach Medienwirksamkeit, aus zutiefst antisemitischen Motiven oder einer Mischung aus beiden – um sich eine Bewegung geschaffen, die ihm folgt, ohne zu wissen warum. Und dass aus einem harmlosen Spiel unaufhaltsamer und bitterer Ernst werden kann, zeigen Bücher und Filme wie „Die Welle“ eindrücklich.

Deshalb ist Vorsicht geraten. Dies bestätigen auch zwei Vorfälle, die sich letzte Woche in Lyon erreigneten: Die Polizei verhaftete sechs jüdische Männer, die mutmaßliche Antisemiten angegriffen haben sollten, welche sie über die Quenelle-Geste identifiziert hatten. Die Juden sind Mitglieder der „Ligue de Défense Juive“ (englisch: „Jewish Defense League“), deren erklärtes Ziel es ist, die Juden der Diaspora unter dem Slogan „Never again“ mit allen dafür notwendigen Mitteln vor Antisemitismus zu schützen. Das FBI stuft sie als „gewalttätige, extremistische jüdische Organisation“ ein. Die LDJ verkündete im Anschluss an die Angriffe in Lyon über Twitter: „Am Samstag und Sonntag wurden zwei große Strafaktionen gegen Menschen, die die ›Quenelle‹ machen, durchgeführt. Die kleinen Nazis sind jetzt nicht mehr so ruhig!“

Diese Vorfälle sind ein Alarmsignal. Denn trotz aller beruhigenden Töne ist die um Dieudonné entstandene Beweggung, die die Quenelle-Geste für sich beansprucht, von mehr gekennzeichnet als nur von Systemkritik. In ihrem Zentrum steht die Überzeugung einer jüdischen Weltverschwörung.

Zwei weitere Zeichen bzw. Symbole, die Dieudonnés Anhänger – auch in Verbindung mit der Quenelle – gerne benutzen, illustrieren dies: Die Ananas entstammt seinem Lied „Shoananas“, das sich über Holocaust-Gedenkfeiern lustig macht. Diese Wortneuschöpfung aus „Shoa“ und „Ananas“ erlaubt Negationisten, den Holocaust als Mythos darzustellen, ohne sich strafbar zu machen. Einen ähnlichen Zweck erfüllt die dem Hitlergruß ähnelnde Quenelle, da ihre Bedeutung zu vage ist, um dafür des Antisemitismus bezichtigt zu werden. Die dritte Geste ist ein Fingerzeig zum Himmel, verbunden mit einer Grimasse, die dem Mund eines Rabbiners ähneln soll und den Worten „Au-dessus, c’est le soleil“ (dt.: „Darüber ist die Sonne“). Auch hier handelt es sich wohl um ein antisemitisches Stereotyp der die gesamte Menschheit dominierenden Juden, über denen nur noch die Sonne stünde.

Staatspräsident François Hollande kündigte am Montag an, dem Phänomen entgegentreten zu wollen und die „Ruhe zu erschüttern, die unter dem Deckmantel der Anonymität schändliche Handlungen im Internet ermöglicht.“ Ebenso werde die Regierung gegen den Sarkasmus solcher kämpfen, „die vorgeben, Humoristen zu sein, in Wirklichkeit aber professionelle Antisemiten sind.“

Ein solch rigoroses Vorgehen ist in der Tat wünschenswert.

(jp)

 
Quellen:
 
http://www.lemonde.fr/politique/article/2013/12/11/quenelle-comment-un-geste-provocateur-est-devenu-un-embleme_3528089_823448.html?xtmc=quenelle&xtcr=5
http://www.directmatin.fr/france/2013-12-17/quest-ce-quune-quenelle-608944
http://www.timesofisrael.com/french-use-nazi-like-salute-with-impunity/
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/17940
http://www.lesoir.be/389447/article/actualite/france/2013-12-27/quenelle-dieudonne-un-salut-nazi-inverse
http://de.wikipedia.org/wiki/Dieudonn%C3%A9_M%E2%80%99bala_M%E2%80%99bala
http://www.slate.fr/story/74429/dieudonne-quenelle
http://www.tachles.ch/news/mitglieder-der-ligue-de-defense-juive-verhaftet
http://fr.wikipedia.org/wiki/Dieudonn%C3%A9#Geste_de_la_quenelle_et_autres_messages_cod.C3.A9s
http://www.youtube.com/watch?v=LxlQK0g2kSk

 

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