Aktuelle Nahost-Krise: Schlagzeilen mit Schlagseite?

Haben die deutschen Schlagzeilen über die jüngsten Ereignisse in Nahost eine Schlagseite zugunsten der Hamas und ihrer Angriffe oder ist dies nur ein subjektiver Eindruck, der auf der selektiven Wahrnehmung vieler aufmerksamer (und zum Teil pro-israelischer) Leser beruht? Dieser Frage geht der Sprachexperte Anatal Stefanowitsch, Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der FU Berlin und Mitbegründer von www.sprachlog.de, in seinem aktuellen Artikel in der Jüdischen Allgemeinen nach.

Ihm zufolge wurde vor allem in den sozialen Netzwerken in den letzten Wochen immer wieder auf die unausgewogene Berichterstattung in Deutschland hingewiesen, welche vor allem die Angriffe Israels auf den Gazastreifen erwähne und verurteile, und viel weniger die Angriffe der Hamas auf Israel.

Um diese Beobachtung einer Prüfung zu unterstellen, analysierte Stefanowitsch über Google News alle Schlagzeilen deutscher Zeitungen zum Stichwort „Nahost“ zwischen dem 6. und 11. Juli – und zwar im Hinblick auf ihre Überschriften. Seinem Ergebnis stellt er eine sachgerechte Zusammenfassung der aktuellen Ereignisse in nur einem Satz voran: „Die Hamas hat Städte in Israel mit Raketen angegriffen (und tut das noch), die israelische Armee hat daraufhin Ziele im Gazastreifen bombardiert und bereitet den Einmarsch von Bodentruppen vor.“ Diese recht simple Beschreibung ließe zu erwarten, dass die Hamas und Israel zu etwa gleichen Teilen als aktive Kräfte in diesem neu aufgebrochenen Konflikt benannt werden.

Dies war vom 6. bis 11. Juli jedoch nicht der Fall. Stefanowitschs Analyse dieser sechs Tage in der deutschen Medienlandschaft kommt zu den folgenden Schlussfolgerungen:

  1. In den Schlagzeilen wurden mehr als doppelt so viele israelische Aktionen, nämlich 92, dokumentiert, im Vergleich zu 40 Aktionen der Hamas.
  2. Israel wurde häufiger als expliziter Akteur benannt: Dies war in drei Viertel der Meldungen über israelische Aktionen der Fall, während nur die Hälfte der Schlagzeilen über Gaza überhaupt einen Akteur enthielt – oftmals wurde hier wie in „Raketenangriffe auf Tel Aviv“ nur das Ereignis genannt.
  3. Die Meldungen, die Israel explizit als Akteur benannten, drückten dies in der Hälfte der Fälle durch die sehr eindeutige Subjektposition aus: „Israel bombadiert Gazastreifen“. Auf der anderen Seite war dies nur bei einem Drittel der Schlagzeilen so. Hier herrschte die Ortsangabe „Gaza“ vor, zum Beispiel in „Raketen aus Gaza“, wobei der Akteur nur implizit erwähnt wird.
  4. Israel wurde öfter als Angreifer dargestellt: Nur zwei Mal ist von einer „Reaktion“ die Rede, kein einziges Mal wurden israelische Aktionen als „Verteidigung“ benannt. Wenn es um die Hamas ging, enthielten hingegen nur ein Fünftel der Meldungen Wörter wie „angreifen“, stattdessen überwogen Formulierungen wie „Raketen abfeuern“.

 

Stefanowitsch schreibt dazu: „Ein Zögern, die Hamas oder andere palästinensische Akteure als Angreifer darzustellen, zeigt sich also nicht nur darin, dass diese nur in der Hälfte der Fälle überhaupt benannt sind, sondern auch in der Wortwahl dort, wo sie explizit erwähnt werden.“

Nun könnte natürlich sein, dass ein Teil dieser Beobachtungen darauf zurückzuführen ist, dass die israelischen Verhältnisse einfacher und klarer zu durchdringen sind als die im Gazastreifen. So erwähnt der Autor später, dass es bezüglich Israel immer so scheine, als sei das ganze Land beteiligt, während auf der anderen Seite stets zwischen der Hamas-Regierung und der Zivilbevölkerung getrennt werde. Die Frage ist nun, ob es für recht kurze Schlagzeilen alternative Formulierungen gibt. „Die Palästinenser“ als Subjekt wäre falsch, da dies die Bevölkerung des Westjordanlands einschließen würde. Und analog zu „Israel droht mit Militärschlag“ etwa zu schreiben „Gazastreifen schießt Raketen ab“ wäre sprachlich etwas holprig oder sogar inkorrekt, da es sich beim Gazstreifen um ein Küstengebiet handelt, das Teil der palästinensischen Autonomiebehörde ist und nicht wie bei Israel um einen politischen Staat.

Deshalb sind einige Beobachtungen unter Vorbehalt zu betrachten und darf die deutsche Presse nicht vorschnell als „israelfeindlich“ tituliert werden. So weist Stefanowitsch darauf hin, dass im Anschluss an besagte Schlagzeilen oft eine detaillierte, sachgerechte und ausgewogene Berichterstattung folgt. Das ist schon mal nicht schlecht. Und auch dass „die aktuellen Ereignisse im Zusammenhang einer langen, sehr komplexen Geschichte stehen, ist keine Frage, und diese Geschichte lässt sich in Schlagzeilen natürlich schwer unterbringen.“ Doch dies erkläre noch nicht, so der Autor weiter, „die systematische Asymmetrie in der Darstellung der Akteure.“

Den deutschen Medien scheint es schwer zu fallen, der Hamas die Verantwortung – oder zumindest eine Mitverantwortung – für die aktuelle Krise in Nahost zuzuschreiben. Darauf deuten nicht zuletzt allseits bekannte Formulierungen wie „Raketenhagel aus Gaza“ hin, die den Eindruck erwecken, es handele sich dabei um ein Naturphänomen oder eine Wetterkatastrophe, an der niemand schuld ist und unter der alle leiden. Letzteres ist zumindest der Fall, und so bleibt zu hoffen, dass das von Stefanowitsch hervorgehobene Differenzierungsvermögen der deutschen Presse, das anscheinend noch vorhanden ist, auch auf die Schlagzeilen angewandt wird, prägen diese doch allzu häufig das Meinungsbild vieler Leser – auch und vor allem derer in den sozialen Netzwerken.

(jp)

 
Quellen:
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/19700
 
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